Vor zehn Jahren hat sich kaum ein deutscher Verleger für ungarische Autoren interessiert. Inzwischen sind nicht nur Imre Kertész, sondern fast alle wichtigen ungarischen Autoren in Deutschland bekannt und beliebt. Nachdem insgesamt über zwanzig ungarische Schriftsteller vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD eingeladen wurden, ein Jahr lang in Berlin zu arbeiten, nach dem Ungarnschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1999 und dem Literaturnobelpreis für Imre Kertész 2002, wurden in Deutschland immer mehr ungarische Autoren entdeckt und übersetzt.
Die Renaissance der ungarischen Literatur begann mit Klassikern der 1920er und 1930er Jahre Sándor Márai, Dezső Kosztolányi und Antal Szerb. Fast alle Neuübersetzungen aus Ungarn wurden in den deutschen Feuilletons gefeiert, die Verkaufszahlen der Verleger haben in den meisten Fällen alle Erwartungen übertroffen. Viele wichtige literarische Preise wurden an ungarische Schriftsteller verliehen, etwa der Literaturnobelpreis an Imre Kertész (2002), der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Péter Esterházy (2004), der Franz-Kafka-Preis (2003) und der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung an Péter Nádas (1995).
Die Literatur- und Kulturbeziehungen zwischen Berlin und Budapest bekamen auch dadurch Auftrieb, weil einige ungarische Literaten wichtige Ämter in deutschen Kulturinstitutionen bekleiden oder innehatten: Beispielsweise war György Konrád langjähriger Präsident und Péter Esterházy ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, Imre Kertész bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Nicht nur die Ungarn, sondern auch andere osteuropäische Autoren haben inzwischen einen gewissen Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt: Die Ukrainer Juri Andruchowytsch und Svetlana Alexievich, die Kroatin Dubravka Ugrešić, die Polen Andrzej Stasiuk, Ryszard Kapuściński, Paweł Huelle und Dorota Masłowska oder der Rumäne Mircea Cărtărescu.
Es gibt kaum noch ungarische intellektuelle, die Slowakisch, Ukrainisch, Kroatisch oder Rumänisch sprechen.
In Deutschland ist es irgendwie gelungen, den Literaturaustausch mit Mittel- und Osteuropa in beide Richtungen intensiver und lebendiger zu gestalten, während die Literaturbeziehungen Osteuropas mit dem Rest Westeuropas eher einseitig sind: Die Peripherie übersetzt viel daraus, was aus dem Zentrum kommt, kleine Sprachen übersetzen viel mehr aus großen Sprachen als umgekehrt. Ist das ein Zufall, oder haben deutsche Verleger, Übersetzer, Feuilletonisten und Leser vielleicht eine besondere Antenne für die Literatur ihrer östlichen Nachbarn?
„Der Weg osteuropäischer Schriftsteller führt meistens über Berlin in andere Sprachen, in die Weltliteratur weiter“ schreibt Imre Kertész in seinem Essay „Warum gerade Berlin?“. Er betont darin die Brückenfunktion der Stadt zwischen den östlichen und westlichen Literaturen. Im Gegensatz dazu würden sich andere westeuropäische Kulturen, etwa die französische oder die englische, eher mit sich selbst begnügen, so Kertész. Péter Esterházy misst dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD eine große Bedeutung zu: „Das Berlin-Jahr veränderte nicht nur unser Leben und unsere Schriften, sondern auch die gesamte zeitgenössische Literatur Ungarns“, schreibt der Schriftsteller.
Die ausgezeichneten Literaturbeziehungen zwischen Berlin und Budapest haben auch indirekt zu einem realistischeren und positiveren Deutschlandbild in Ungarn beigetragen. Berlin gehört zu den wichtigsten Bezugspunkten und Spielstätten vieler zeitgenössischer ungarischer Romane, Novellen und Essays.
Hatte Berlin in Ungarn vor kurzem noch ein ähnliches Image wie Helsinki oder Oslo – sympathisch, aber weit weg und außerdem verregnet –, gehört es heute zu den attraktivsten Reisezielen vor allem der gut ausgebildeten und gutverdienenden Ungarn. Unter ihnen hat es sich inzwischen herumgesprochen, dass Berlin eine der spannendsten und innovativsten Kulturmetropolen der Welt ist.