Illustration: Ein kleiner Mann mit Megafon steht auf einem großen Stuhl.

To Be Translated Or Not To Be

Wenn ein Autor aus Osteuropa nicht auf Deutsch, Englisch oder Französisch vorliegt, dann wird er vielleicht nie im Nachbarland gelesen. Wir brauchen eine paneuropäische literarische Öffentlichkeit und eine adäquate Übersetzungsförderung, damit wir Literatur über Sprach- und Ländergrenzen genießen können.

Derzeit findet eine radikale Kontinentalverschiebung der Sprachräume statt: Länder, die die wichtigste lingua franca der Globalisierung, das Englische, sprechen, isolieren sich zunehmend vom Rest der Welt. Recherchen der renommierten amerikanischen Sprachwissenschaftlerin und Übersetzerin Esther Allen haben ergeben, dass die ins Englische übersetzte Belletristik in den Vereinigten Staaten nur einen verschwindend geringen Anteil aller publizierten Titel bildet. In der arabischen Welt werden wesentlich mehr Bücher aus anderen Sprachen übersetzt als in den USA, obwohl sich Amerika gerne als weltoffen, kosmopolitisch und der kulturellen Vielfalt verpflichtet darstellt.

Weltweit sind neben dem Englischen das Spanische und das Chinesische Hauptidiome. Das Deutsche, in Europa immerhin eine der vielgesprochenen Sprachen, ist auf globaler Ebene zum „Altgriechisch der Gegenwart“ geworden, wie der Kulturjournalist Thierry Chervel in der letzten Ausgabe des Kulturreports formulierte. Die Mehrheit literarischer Werke Europas wird jedoch in kleinen Sprachen geschrieben. Außerhalb der Sprachgrenzen werden diese Werke oft kaum wahrgenommen. Von einigen Ausnahmen abgesehen sind vor allem Autoren aus Mittel- und Osteuropa im Westen nach wie vor praktisch unbekannt.

Wenn ein kroatischer, tschechischer oder ukrainischer Schriftsteller in Deutschland oder Frankreich Erfolg hat, dann berichten auch die ungarischen Feuilletons darüber [...].

Ein Problem besteht darin, dass es immer weniger Multiplikatoren, Journalisten, Verleger und Literaturübersetzer gibt, die die Sprachen der Nachbarländer verstehen. Wenn man also in einem der kleineren Sprachräume Mittel- oder Osteuropas geboren ist, hat man nicht nur das Problem, dass man mit seinen Landsleuten global kaum wahrgenommen wird, sondern auch, dass es im Zuge der Globalisierung immer schwieriger wird, die Literaturen und Kulturen seiner Nachbarn kennenzulernen.

In Ungarn etwa muss man heute sehr gute Englisch-, Deutsch- und Französischkenntnisse haben, um auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Es gibt kaum noch ungarische Intellektuelle, die Slowakisch, Ukrainisch, Kroatisch oder Rumänisch sprechen. Die ungarische Literaturszene nimmt die Literatur und Kultur der Nachbarländer vor allem über den Umweg über die Hauptsprachen Westeuropas wahr. Wenn ein kroatischer, tschechischer oder ukrainischer Schriftsteller in Deutschland oder Frankreich Erfolg hat, dann berichten auch die ungarischen Feuilletons darüber und die Verlage besorgen die ersten probeübersetzungen. Wenn ein wichtiger Autor aus Osteuropa aus irgendwelchen Gründen nicht in Deutsch, Englisch oder Französisch zugänglich ist, dann wird er vielleicht nie im Nachbarland gelesen.

Aus diesen Gründen spielen die westeuropäischen Verlage eine wesentliche Rolle: Sie haben das Potenzial (und natürlich das Risiko), unbekannte Autoren aus Mittel- und Osteuropa zu entdecken. Dadurch können sie Brücken zwischen den Sprach- und Kulturräumen Ost- und Westeuropas schlagen und zur europäischen Verständigung beitragen. Sie können im besten Fall sogar Sprungbett in die globalen, englischsprachigen Buchmärkte sein.

 

Unbekannte Osteuropäer

Auf dem Boden liegen ein Haufen ungarische Bücher.
In Deutschland ist es irgendwie gelungen, den Literaturaustausch mit Mittel- und Osteuropa in beide Richtungen intensiver zu gestalten, während die Literaturbeziehungen Osteuropas mit dem Rest Westeuropas eher einseitig sind, Foto: Sindy Sussengut via unsplash

Wenn Arundhati Roy ihren Roman „The God of Small Things“ nicht in Eglisch, sondern in Kerala geschrieben hätte, wäre sie nicht weltweit bekannt geworden. Imre Kertész schrieb den „Roman eines Schicksallosen“ in Ungarisch und blieb sogar in seinem Heimatland Jahrzehnte lang unbekannt.

Erst nach seinem plötzlichen Erfolg in Deutschland wurde die breite Öffentlichkeit in Ungarn auf ihn aufmerksam. Wenn der „Roman eines Schicksallosen“ nicht einen großen Erfolg in Deutschland gehabt hätte, wäre das Buch nie ins Englische übersetzt worden und Kertész hätte nie den Literaturnobelpreis bekommen.

Vor zehn Jahren hat sich kaum ein deutscher Verleger für ungarische Autoren interessiert. Inzwischen sind nicht nur Imre Kertész, sondern fast alle wichtigen ungarischen Autoren in Deutschland bekannt und beliebt. Nachdem insgesamt über zwanzig ungarische Schriftsteller vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD eingeladen wurden, ein Jahr lang in Berlin zu arbeiten, nach dem Ungarnschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1999 und dem Literaturnobelpreis für Imre Kertész 2002, wurden in Deutschland immer mehr ungarische Autoren entdeckt und übersetzt.

Die Renaissance der ungarischen Literatur begann mit Klassikern der 1920er und 1930er Jahre Sándor Márai, Dezső Kosztolányi und Antal Szerb. Fast alle Neuübersetzungen aus Ungarn wurden in den deutschen Feuilletons gefeiert, die Verkaufszahlen der Verleger haben in den meisten Fällen alle Erwartungen übertroffen. Viele wichtige literarische Preise wurden an ungarische Schriftsteller verliehen, etwa der Literaturnobelpreis an Imre Kertész (2002), der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Péter Esterházy (2004), der Franz-Kafka-Preis (2003) und der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung an Péter Nádas (1995).

Die Literatur- und Kulturbeziehungen zwischen Berlin und Budapest bekamen auch dadurch Auftrieb, weil einige ungarische Literaten wichtige Ämter in deutschen Kulturinstitutionen bekleiden oder innehatten: Beispielsweise war György Konrád langjähriger Präsident und Péter Esterházy ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, Imre Kertész bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Nicht nur die Ungarn, sondern auch andere osteuropäische Autoren haben inzwischen einen gewissen Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt: Die Ukrainer Juri Andruchowytsch und Svetlana Alexievich, die Kroatin Dubravka Ugrešić, die Polen Andrzej Stasiuk, Ryszard Kapuściński, Paweł Huelle und Dorota Masłowska oder der Rumäne Mircea Cărtărescu.

Es gibt kaum noch ungarische intellektuelle, die Slowakisch, Ukrainisch, Kroatisch oder Rumänisch sprechen.

In Deutschland ist es irgendwie gelungen, den Literaturaustausch mit Mittel- und Osteuropa in beide Richtungen intensiver und lebendiger zu gestalten, während die Literaturbeziehungen Osteuropas mit dem Rest Westeuropas eher einseitig sind: Die Peripherie übersetzt viel daraus, was aus dem Zentrum kommt, kleine Sprachen übersetzen viel mehr aus großen Sprachen als umgekehrt. Ist das ein Zufall, oder haben deutsche Verleger, Übersetzer, Feuilletonisten und Leser vielleicht eine besondere Antenne für die Literatur ihrer östlichen Nachbarn?

„Der Weg osteuropäischer Schriftsteller führt meistens über Berlin in andere Sprachen, in die Weltliteratur weiter“ schreibt Imre Kertész in seinem Essay „Warum gerade Berlin?“. Er betont darin die Brückenfunktion der Stadt zwischen den östlichen und westlichen Literaturen. Im Gegensatz dazu würden sich andere westeuropäische Kulturen, etwa die französische oder die englische, eher mit sich selbst begnügen, so Kertész. Péter Esterházy misst dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD eine große Bedeutung zu: „Das Berlin-Jahr veränderte nicht nur unser Leben und unsere Schriften, sondern auch die gesamte zeitgenössische Literatur Ungarns“, schreibt der Schriftsteller.

Die ausgezeichneten Literaturbeziehungen zwischen Berlin und Budapest haben auch indirekt zu einem realistischeren und positiveren Deutschlandbild in Ungarn beigetragen. Berlin gehört zu den wichtigsten Bezugspunkten und Spielstätten vieler zeitgenössischer ungarischer Romane, Novellen und Essays.

Hatte Berlin in Ungarn vor kurzem noch ein ähnliches Image wie Helsinki oder Oslo – sympathisch, aber weit weg und außerdem verregnet –, gehört es heute zu den attraktivsten Reisezielen vor allem der gut ausgebildeten und gutverdienenden Ungarn. Unter ihnen hat es sich inzwischen herumgesprochen, dass Berlin eine der spannendsten und innovativsten Kulturmetropolen der Welt ist.

Schaffung von Öffentlichkeit

Wie könnte der Literaturaustausch zwischen den großen und kleinen sowie unter den kleinen Sprachräumen Europas wiederbelebt werden? Wo sind die Ansätze einer neuen paneuropäischen Öffentlichkeit der europäischen Literaturen?

Auf eine Polemik des französischen Philosophen Pascal Bruckner über den Islam in Europa, publiziert Anfang 2007 im Internetmagazin „signandsight“, reagierten umgehend der anglo-niederländische Journalist und Schriftsteller Ian Buruma und der britische Historiker Timothy Garton Ash. Viele hochkarätige Intellektuelle aus ganz Europa diskutierten mit und eine europaweite Mediendebatte kam ins Rollen. Der Suhrkamp Verlag fand die Qualität der Texte so gut, dass er die ganze Debatte auch in Buchform zugänglich machte.

Was braucht man dazu, damit dieses Beispiel nicht die Ausnahme, sondern die Regel wird? Wie kann man das literarische Leben und die intellektuelle Debatte Europas transnational vernetzen? Man braucht nicht viel: Das Internet, die englische Sprache und einen Förderer, der ergebnisoffen und prozessorientiert arbeitet, wie die deutsche Kulturstiftung des Bundes, deren Initiativprojekt „signandsight“ ist.

Bei der oben erwähnten Debatte hat es mit der Europäisierung und Transnationalisierung nur deshalb funktioniert, weil Pascal Bruckner seinen Text nicht in Französisch in „Le Monde“, sondern im Internet in englischer Sprache veröffentlichte.

Berlin gehört zu den wichtigsten Bezugspunkten und Spielstätten vieler zeitgenössischer ungarischer Romane, Novellen und Essays.

„Signandsight“ ist nur ein Beispiel unter vielen: „Eurozine“, „Eurotopics“ oder „Lyrikline“ sind weitere Plattformen für Debatte und Literaturaustausch in Europa. Es bleibt aber unumstritten, dass kein Webprojekt das persönliche Erleben der Kunst und Kultur ersetzen kann. Es ist nach wie vor wichtig, den Reichtum und die Vielfalt der literarischen Infrastruktur Europas zu erhalten, weiter auszubauen und transeuropäisch zu vernetzen. Neben einer adäquaten Übersetzungsförderung kommt es darauf an, die Institutionen und Projekte außerhalb des Internets mit entsprechenden Mitteln zu fördern.

Bereits im Zeitalter der Aufklärung haben die Gelehrten davon geträumt, dass literarische Werke bald in ganz Europa gelesen werden können, dass Ideen und Gedanken über Sprachgrenzen hinweg zugänglich werden. Am Anfang des 21. Jahrhunderts könnte es bald gelingen, über das Internet eine paneuropäische literarische Öffentlichkeit zu schaffen und die Europäisierung der bestehenden „Offlineinfrastruktur“ voranzutreiben. Wir sind vielleicht nur noch wenige Schritte von diesem Traum entfernt.

Über die Autorin
Gabriella Gönczy
Journalistin & Übersetzerin

Gabriella Gönczy ist Journalistin, Übersetzerin und ehemalige Leiterin des Robert-Gragger-Institut am Collegium Hungaricum in Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie „’Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen.’ Ungarische Autoren schreiben über Berlin“ und Mitglied der Internationalen Jury von TWINS 2010, einem Projekt der Kulturhauptstadt Europas. Zudem ist sie Leiterin der Arbeitsgruppe Kommunikation der zivilgesellschaftlichen Initiative „Europa eine Seele geben“.

 

Kulturreport Fortschritt Europa

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